Ist dein Vater Glaser? Diese von Eltern an Kinder jedenfalls früher oft gestellte Frage, wenn letztere sich vordrängeln oder anderen jedenfalls die Sicht versperren, geht einem permanent durch den Kopf, wenn man zum Beispiel an diesem Freitagabend durch die Räume der Alten Nationalgalerie in Berlin, nun ja: nicht gerade andächtig schweift, wie es die prächtige Architektur und das dort huldvoll Gezeigte nahelegen würde. Man schiebt sich so durch. An diesem Wochenende, bis zum 4. August, ist in der Alten Nationalgalerie noch die Ausstellung Caspar David Friedrich – Unendliche Landschaften zu sehen. Vor dem Museum windet sich eine Schlange mit mutig Spontanen, die ohne ein Zeitfensterticket gekommen sind. Und drinnen ist der Andrang derart groß, dass man vor lauter Menschen kaum die angekündigten Landschaften erblickt.
Man schaut in erster Linie auf Rückenansichten von Leuten. Dahinter irgendwo müssen die berühmten und wahrhaftig bis heute atemberaubenden Gemälde sein, in denen ja eben nur sehr wenige Menschen zu finden sind. Caspar David Friedrich ist neben vielen anderen Dingen der Maler der Einsamkeit. Die zu erkennen, fällt in einem bumsvollen Ausstellungsaal bloß relativ schwer.
Vor dem zentralen Bilderpaar der Schau – Mönch am Meer (1808–1810) und Abtei im Eichwald (1809–1810) – stehen die Leute am Freitagabend in mehreren Reihen. Nicht ordentlich gestaffelt selbstverständlich, das würde beim Durchblicken von hinten ja helfen. Sondern wie zufällig zu spontanen Gruppen von menschlichen Sichtblenden geclustert. Man ist kurz versucht, wie ein Tennisspieler an der Grundlinie mit ein paar schnellen Sidesteps eine Lücke zwischen den Leuten zu erhaschen. Aber, ach, es ist in den Ausstellungssälen auch relativ warm, das lähmt die motorische Antriebskraft des Besuchers erheblich. Die Klimatisierung der Alten Nationalgalerie ist vermutlich nicht für solche Menschenmengen ausgelegt, wie sie sich an diesem Abend durch die Räume schieben. Kurz ist einem bange, ob Das Eismeer (1823/1824) hier nicht wegschmilzt wie sein zeitgenössisches reales Pendant an den Polkappen. Aber so echt sind die Gemälde von Caspar David Friedrich nun auch wieder nicht. Sie sind ja nur Kunst.
Die von Friedrich ist ungeheuer populär gerade, er wird in seinem 250. Geburtsjahr allerdings auch überall groß gefeiert. Die Hamburger Friedrich-Ausstellung Kunst für eine neue Zeit besuchten im Winter 330.000 Menschen, die Berliner Friedrich-Ausstellung meldete schon Anfang Juli die 200.000. Besucherin und könnte also die Hamburger Zahl noch übertreffen. Nach Berlin ist dann gleich Dresden mit zwei Friedrich-Ausstellungen dran, Weimar und New York City folgen danach, und in Greifswald, der Geburtsstadt des Malers, ist ganzjährig Friedrich-Ausstellung. Die Kreidefelsen auf Rügen (1818/19), die derzeit noch in Berlin hängen, müssen rasch verpackt werden, in zwei Wochen schon wird das Gemälde erstmals überhaupt in Greifswald und damit auch in geografischer Nähe seines Motivs zu sehen sein.
Das unter anderem Lustige daran, dass man in Berlin der Kreidefelsen und der anderen berühmten Friedrich-Bildern vor lauter Rückenansichten von vor einem stehenden Menschen kaum ansichtig wird, ist die Tatsache, dass Caspar David Friedrich auch der Maler der Rückenfiguren war. Die bekannteste ist Der Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818), ausgerechnet dieses Gemälde jedoch ist in Berlin leider nicht zu sehen: Im Mittelpunkt steht ein Mann auf einem Gipfel und blickt auf die nebelverhangene Welt zu seinen Füßen. Stellt man sich nun Menschenmengen in Fünfer- bis Achterreihen vor diesem Gemälde vor, so ergäbe dies selbst ein schönes Bild: Alle gucken in dieselbe Richtung einem Guckenden beim Gucken in die Landschaft zu – die Verlängerung der zweidimensionalen Kunst in den dreidimensionalen Raum eines Ausstellungsaals wäre so sinnfällig, dass man fürchten müsste, die Landschaft auf dem Bild könne sich vor lauter Angestarrtwerden beschweren. Ich kann doch auch nichts für mein Majestätischsein, könnte die Landschaft rufen. Und der Wanderer könnte sich umdrehen und seine Beobachter anschreien: Lasst mich gefälligst allein mit meiner Einsamkeit, ihr Horden!
Über die Frage, warum Friedrichs zwei Jahrhunderte alten Landschaftsbilder denn aktuell so aktuell erscheinen, wurden sich zuletzt viele Gedanken gemacht. Eine These kann man gleich verwerfen: Die Sehnsucht zurück nach einer unberührten, heilen Natur kann es nicht sein, idyllisch schauen die Landschaften bei Friedrich gerade nicht aus, auch wenn sie vor Beginn der Industrialisierung und damit Umweltzerstörung entstanden sind. Und dass der zeitgenössische Mensch sich nach der Einsamkeit auf Friedrichs Bildern sehnen würde, lässt sich nun ebenfalls nicht behaupten, der Bedarf danach scheint überschaubar, gerade erst hat die Bundesregierung eine ” Strategie gegen Einsamkeit” beschlossen, die sie als gesellschaftlich drängendes Problem erkannt hat. Auch der Titel der anstehenden New Yorker Ausstellung im Metropolitan Museum scheint einem seltsam und unzeitgemäß, The Soul of Nature wird die heißen. Zwar weiß man nicht, was US-Amerikanerinnen und -Amerikaner wohl in Friedrichs Landschaften erkennen werden (in den USA wurde der Maler zuvor nie groß gezeigt), die Deutschen jedenfalls haben im Zweifel die Seele bei Friedrich nicht in den Meeren und Gebirgen gefunden, sondern in sich selbst, in der Darstellung der übermächtigen Natur: Verglichen mit ihr sind sie nichtige, vorübergehende, aber zur Romantik in jedem Wortsinne fähige Wesen. (Und die Nazis erkannten in Friedrichs Landschaften dann halt ganz stumpf: Deutschland.)
Die Sehnsucht nach Stille (das ist auch so eine Friedrich-These) kann die Besucherinnen der Berliner Ausstellung auch nicht in die Alte Nationalgalerie geführt haben. Denn die allermeisten von ihnen tragen am Freitagabend die vom Museum gestellten Kopfhörer und lassen sich also vom Audioguide vollquatschen. Würden sie die Kopfhörer abnehmen, würden sie hören, dass gar nicht so viel zu hören ist in den Ausstellungssälen. Auch die Leute, die ohne betreutes Kunstgucken per Spracheinflüsterung auskommen, sprechen kaum ein Wort. Sie schauen andächtig, auch wenn sie nichts sehen. Oder ist das Andächtigsein bei ihnen letztlich eines, das dem eigenen Andächtigsein andächtig lauscht, sind hier denn alle selbstbesoffen von der eigenen, weniger der künstlerischen Gegenwärtigkeit?
Womöglich ist die Friedrich-Begeisterung nämlich bloß das, was man einen Hype nennt. Bei einem solchen speist sich die Massenbegeisterung aus der Massenbegeisterung selbst: Wenn alle hinwollen, will man auch hin.
Aber Halt, man möchte sich nicht über andere Kunstbegeisterte erheben. Sie werden ihre guten Gründe haben. Und wären die nicht so zahlreich da am Freitagabend, wäre man also ganz allein den Gemälden Friedrichs ausgesetzt, da würde man es tatsächlich mit der Angst zu tun kriegen: vor der Einsamkeit in den Bildern. Die Einsamkeit würde man womöglich in sich selbst finden, oder wenigstens könnte sie in einen hinein kriechen. Das möchte man doch auch nicht! Dann lieber gemeinsam einsam sein und die Einsamkeit so vergessen. Und sei es um den Preis, kaum zu sehen, wovor man sich fürchtet: letztlich vor sich selbst.
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Ist dein Vater Glaser? Diese von Eltern an Kinder jedenfalls früher oft gestellte Frage, wenn letztere sich vordrängeln oder anderen jedenfalls die Sicht versperren, geht einem permanent durch den Kopf, wenn man zum Beispiel an diesem Freitagabend durch die Räume der Alten Nationalgalerie in Berlin, nun ja: nicht gerade andächtig schweift, wie es die prächtige Architektur und das dort huldvoll Gezeigte nahelegen würde. Man schiebt sich so durch. An diesem Wochenende, bis zum 4. August, ist in der Alten Nationalgalerie noch die Ausstellung Caspar David Friedrich – Unendliche Landschaften zu sehen. Vor dem Museum windet sich eine Schlange mit mutig Spontanen, die ohne ein Zeitfensterticket gekommen sind. Und drinnen ist der Andrang derart groß, dass man vor lauter Menschen kaum die angekündigten Landschaften erblickt.