„Verluste verkraftbar“: Ukraine könnte mit Kursk-Offensive ihre Niederlage beschleunigen
Analysten suchen im Husarenritt der Ukraine den Sinn; obwohl die Russen am Krieg zweifeln, scheinen sie am System Putin dringend festhalten zu wollen.
Kursk – „Der Überraschungserfolg ist vor allem ein Signal nach innen“, kommentiert Barbara Oertel. Die Osteuropa-Redakteurin der taz ist geneigt, denjenigen in der Ukraine zuzustimmen, die die „,Aktion Kursk‘“ als Durchhalteparole wahrnehmen“. Ihrer Meinung nach sei sie als solche auch nicht zu unterschätzen. Die Kiew Post behauptet, der Husarenritt sei geeignet, den Diktator Wladimir Putin innenpolitisch vom Sockel zu stürzen – was andere Analysten stark bezweifeln.
Die Ukraine sei in die Grenzregion eingedrungen „mit dem Ziel, Russland zu destabilisieren, indem man dessen Schwächen aufzeigt“, soll ein hochrangiger ukrainischer Militär der französischen Nachrichtenagentur Agence France Press (AFP) gesagt haben, schreibt die Post. Allerdings räumt die Quelle ein, dass sie erwarte, „dass es Russland ,letztendlich‘ gelingen werde, die ukrainischen Streitkräfte in Kursk zu stoppen und mit einem groß angelegten Raketenangriff, unter anderem auf ‚Entscheidungszentren‘ in der Ukraine, zurückzuschlagen.
Russland einig: Ukraine-Krieg als Offensive gegen den westlichen Nazismus
Demnach steht weniger das militärische Ziel im Fokus der Ukraine – die wahrscheinlich ohnehin zu wenig Kräfte hätte, um das Territorium zu halten; beispielsweise als Faustpfand für einen Tausch im Rahmen von Friedensverhandlungen. Russland befinde sich nach eigenem Denken in der Defensive gegenüber dem aus Washington, Warschau und Kiew gesteuerten Nazismus; das jedenfalls werde der russischen Bevölkerung über die verschiedenen Kanäle vom Plakat bis in die Sozialen Netzwerke hinein eingebläut, behaupten verschiedene Osteuropa-Kenner. Für diese propagandistischen Offensiven muss Russland permanent Kräfte nachziehen, um mehr zu erreichen, als lediglich anzudeuten, was die Führung militärisch erreichen könnte.
„So unterschiedlich diese Gruppen auch waren, alle, mit Ausnahme derjenigen, die weggezogen waren, schlossen sich um Wladimir Putin zusammen. Sie halten ihn nicht nur als Symbol, sondern auch als rettenden Anker fest. In der Extremsituation, in der sich Russland heute befindet, bleibt Putin ein Beschützer und Retter.“
Sich an der Grenze zum eigenen Reich überrumpeln lassen zu müssen, war ein Volltreffer in das russische Selbstverständnis –beziehungsweise ein Frontalangriff auf das russische Regime; das besteht allein oder zumindest vorrangig in der Person des Diktators Wladimir Putin, wie Fabian Burkhardt behauptet. „Solange Putin an der Macht ist, wird sich das Regime nach innen und außen weiter radikalisieren“, schreibt der Osteuropa-Kenner des Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung für die Bundeszentrale für politische Bildung.
Allerdings sei Wladimir Putin in seinem personalistischen autoritären Regime auf die Loyalität durch politische wie militärische Eliten angewiesen. Misserfolge würden als Anzeichen von Schwäche gesehen und eventuell mit einem Staatsstreich geahndet oder mit der Bildung rivalisierender Netzwerke von Eliten – der Putschversuch des Wagner-Sölderführers Jewgeni Prigoschin vor mehr als einem Jahr hatte die Anfälligkeit von Putins Machtzirkel kurz aufblitzen lassen.
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Putin in Gefahr: Der Ukraine-Krieg ist das bisher größte Wagnis seines Regimes
„Vor diesem theoretischen Hintergrund ist die Annahme plausibel, dass der Krieg die bisher größte Gefahr für das Putin-Regime bedeutet“, schreibt Burkhardt. Diese Gefahr wird mit jedem Rückschlag greifbarer; zumal, wenn der Krieg tatsächlich vor den Augen der russischen Bevölkerung stattfindet und sie eventuell sogar eigene zivile Opfer zu beklagen hat. Laut der anonymen Quelle der AFP will die Ukraine genau das erreichen: „Wir sind in der Offensive. Das Ziel ist, die Positionen des Feindes auszudehnen, maximale Verluste zuzufügen und die Lage in Russland zu destabilisieren, da sie nicht in der Lage sind, ihre eigene Grenze zu schützen.“
Immerhin sind jetzt 76.000 russische Menschen mit dem Krieg direkt konfrontiert, nachdem diese Menge an Zivilisten aus der Grenzregion Kursk evakuiert worden sei, wie die russische Nachrichtenagentur Tass gemeldet hat. Die Ukraine hält jetzt ihren Fuß auf russischem Territorium in einer Tiefe von 20 Kilometern, inzwischen soll die Zahl der beteiligten ukrainischen Kräfte in die Tausende gehen. Russland hat den Krieg jetzt zuhause anstatt nur auf den Bildschirmen via gleichgeschalteter russischer Medien.
Meinung in Russland ist klar: Der Mehrheit sind die Verluste zu hoch
Aus Russland wird kein klares Stimmungsbild zum politischen Stil, zu Putins Person oder zum Krieg zu bekommen sein, vermutet Christian Caryl – der ehemalige Moskauer Büroleiter des Magazins Newsweek schreibt in Foreign Policy (FP) von der Angst der Russen vor der öffentlichen Äußerung einer Meinung – zumal einer kritischen. Aber auch staatlich finanzierte Meinungsforscher überbringen mitunter Hiobsbotschaften: „Das Vertrauen der Russen in ihren Präsidenten sank im März 2020 auf ein 14-Jahres-Tief von 28,3 Prozent, stieg jedoch nach der groß angelegten Invasion der Ukraine wieder stark an“, berichtet FP über eine Umfrage durch das russische Institut VCIOM.
Caryl führt aber auch die Analysen anderer, unabhängiger Meinungsforschungsinstitute auf, beispielsweise Levada – mit einem überraschenden Ergebnis: Die allgemeine Zustimmung zum Krieg war im März dieses Jahres hoch: 77 Prozent „Levada stellte jedoch auch fest, dass mehr Befragte (52 Prozent) Friedensverhandlungen befürworteten als die Fortsetzung der Feindseligkeiten (40 Prozent), was nicht mit den Wünschen des Kremls übereinstimmt. Und satte 66 Prozent der Befragten stimmten zu, dass Russland einen zu hohen Preis für die Invasion zahlt“, schreibt Caryl.
Verluste an Vertrauen spürbar: 18 Prozent der Russen gegen Krieg – und für Putin
Das äußerten fast zwei Drittel der Befragten, bevor die Ukraine vermehrt in der Lage war, Drohnen tief ins russische Reich hineinzuschicken oder sogar – wie aktuell – mit Truppen in Verbandsstärke über die Grenze zu marschieren und sich dort festzusetzen. Newsweek-Autor Caryl unterstreicht die Komplexität der in Russland erfragten Meinung. Denn sind sie da: die Stimmen, die das Regime destabilisieren. Waleri Fjodorow sorgte beispielsweise im September vorigen Jahres für Aufsehen, als er sagte, dass bis zu 18 Prozent der russischen Bevölkerung den Krieg offen ablehnten.
Dennoch würden sich die Russen gleichermaßen weiterhin um Putin scharen, betont der Politologe und Chef des Meinungsforschungsinstituts VCIOM im Interview mit dem staatlichen Sender RBK: „ So unterschiedlich diese Gruppen auch waren, alle, mit Ausnahme derjenigen, die weggezogen waren, schlossen sich um Wladimir Putin zusammen. Sie halten ihn nicht nur als Symbol, sondern auch als rettenden Anker fest. In der Extremsituation, in der sich Russland heute befindet, bleibt Putin ein Beschützer und Retter“, sagt er.
„Trägheitsszenario“: Solange Leopards brennen, bleibt Russland folgsam
Allerdings spricht Fjodorow auch von einem „Trägheitsszenario“. Die Haltung gegenüber Putin würde bestehen bleiben, so lange sich die Ukraine an den Panzersperren die Zähne ausbeiße, so lange deutsche Leopard-Panzer brennen oder F-16 vom Himmel stürzten; so lange die westlichen Gesellschaften kriegsmüde blieben, so lange in Russland trotz Sanktionen Güter produziert und Löhne gezahlt sowie die Renten steigen würden. „Wenn sich die Situation gemäß dem Trägheitsszenario entwickelt, wird Putin nicht nur das Symbol und der militärische Führer des Landes sein, sondern auch der Sieger, dank dem das Land gegen den Westen überlebt hat“, sagt er.
Die Ukraine könnte sich also mit ihrem mutigen Vorrücken verkalkuliert haben, mutmaßt aktuell das Nachrichtenmagazin Spiegel im Gespräch mit dem deutschen Militärexperten Gustav C. Gressel. Der betrachtet den Vorstoß der Ukraine als peinlich für die russische Propaganda, aber verkraftbar, wie er sagt. Das liege daran, dass Kursk an der Peripherie eines Riesenreiches liege und im Grunde jenseits des Interesses der russischen Führung. Sie sei dort, nach seinen Worten, eher gewillt, Verluste zu akzeptieren.
Sollte die Ukraine aufgrund dieses überraschenden Aufbäumens an den anderen Fronten militärisch in die Knie gehen, könnte auch der Westen schlussendlich einknicken, vermutet Gressel. Er hält den russischen Präsidenten für äußerst krisenresistent und die Ukraine dagegen für aufgezehrt, wie er dem Spiegel gegenüber sagte: „Das Kursk-Manöver könnte das militärische Ende der Ukraine einleiten.“ (Karsten Hinzmann)
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