Trügerische Ruhe im Norden Israels: „Viele haben jetzt noch mehr Angst als vor der Waffenruhe“
In Schlomi, direkt an der Grenze zum Libanon, schlägt der Krieg, der nicht zu Ende geht, in den Seelen und Leben der Menschen weiter Wunden. Eine Reportage.
Achtung, bissiger Hund. Das Schild am Zaun warnt vor einer Gefahr, die es längst nicht mehr gibt. Kein Hund wacht hier, der Garten gehört den Straßenkatzen. Sie patrouillieren durchs hohe Gras und warten, dass einer der neuen Bewohner das Haus verlässt – eine Maus hier, eine Ratte dort. Die Nager naschen an dem, was in der Küche zurückblieb, als die Menschen von hier verjagt wurden. Es ist ein Haus von vielen, in einer Straße von vielen, in Schlomi, einer israelischen Kleinstadt, die sich an die Grenze zum Libanon schmiegt.
In Schlomi lebten 10.000 Menschen. Dann kam der 7. Oktober 2023, und mit ihm kamen die Raketen aus dem Libanon. Eltern packten ihre Kinder, rannten mit ihnen in die Luftschutzräume, Menschen sprangen aus ihren Autos in Deckung in die Straßengräben. Die Hisbollah im Libanon nannte das „Solidarität mit Gaza“, als hätte Israel den Krieg begonnen, nicht die Hamas. Ein Jahr und zwei Monate lang hielt der Raketenbeschuss an. Nun ist Waffenruhe. Es ist keine Stille, die hier irgendwen durchatmen lässt.
An der Grenze zum Libanon: Viele wollen noch nicht zurück in ihre Häuser
„Es ist wie ein Pflaster, das man auf eine Wunde klebt. Irgendwann löst es sich und fällt herunter.“ So beschreibt Yossi Amrussi die Vereinbarung zur Waffenruhe. Yossi steigt über die Wildpflanzen, die sich vor dem Eingang zu seinem Haus breit gemacht haben. Der 35-Jährige ist heute zum ersten Mal wieder hier, nachdem die Familie im Herbst 2023 evakuiert worden war. Die sechsjährige Avishag ist mitgekommen. Sie hebt vom Boden ein grellrosa Stofftier auf, das sie zurückgelassen hatte, als die Familie Schlomi verlassen musste. „Ich will zurück“, sagt sie, „zu meinem Spielzeug“.
Avishag hat im letzten Jahr drei Mal die erste Volksschulstufe begonnen. Einmal in Schlomi, regulär. Dann in Jerusalem, wo die vierköpfige Familie in einem Hotelzimmer unterkam. Und dann nahe Haifa, wo sie nach ein paar Monaten eine Wohnung anmietete, weil klar wurde, dass der Krieg so bald nicht vorbei sein würde. Ob sie jetzt, nach dem Beginn der Waffenruhe, wieder in ihr Haus zurückkehren? „Ich möchte schon gerne“, sagt Yossi. „Aber meine Frau ist dagegen. Und ich kann sie verstehen.“
Bis Ende Januar sollen alle Hügel von den Stellungen der Hisbollah geräumt werden
Er zeigt auf ein Loch im Eingangstor. Es war zwar nur ein Splitter jener Rakete, die in einem Mehrfamilienhaus in der Nachbarschaft ein viel größeres Loch verursachte. Aber auch dieser Splitter hätte gereicht, um einen von ihnen zu töten. Yossi führt hinauf, in den oberen Teil seines Einfamilienhauses, der längst fertig sein sollte, aber noch Rohbau ist. Von hier aus bietet sich ein prachtvoller Blick auf die Hügel des Libanon. Und Yossi und Avishag sind leichte Ziele aus Sicht der Hisbollah-Milizionäre, die auf einem Hügel stationiert sind.
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Bis Ende Januar sollen alle Hügel von den Stellungen der Hisbollah geräumt werden, so steht es in der Vereinbarung zur Waffenruhe. Yossi glaubt nicht daran. „Dort oben leben ja Menschen, die wollen in ihre Häuser zurück, so wie wir auch.“ Und unter diesen Menschen gebe es eben auch Terroristen.
Israel und der Libanon: Frieden gibt es nur in Erinnerungen
„Die Leute hier trauen dieser Ruhe nicht“, sagt auch Abed, (Name geändert, Anm.), der mit seiner Frau Elsi einen Kiosk in Schlomi betreibt. Der Kiosk ist über die Monate zur Anlaufstelle für die wenigen Verbliebenen geworden. Sie kommen hierher, um Lottoscheine auszufüllen – und die Leere, die sich über Schlomi gelegt hat, als alle anderen die Stadt verließen. Sie plaudern, reden übers Kriegsgeschehen, Elsi macht Kaffee. „Sie brauchen einen Ort, wo sie hingehen können“, sagt Elsi. Sie, das sind die vielen hier stationierten Soldatinnen und Soldaten und eben auch „die Omas und Opas, die nicht evakuiert werden wollten“.
Einer dieser Opas ist Asher. „Wie kann ich weg von hier? Ich bin Bauer, ich muss mich um meine Hühner kümmern.“ Asher ist hier aufgewachsen. Er erinnert sich an die Zeit, als Menschen aus dem Libanon noch herüber nach Israel kamen, um hier zu arbeiten. „Das war, bevor sich die Hunde des Land geschnappt haben“, sagt er. Die „Hunde“, das ist die Hisbollah. „Die haben keinen Gott“, meint Asher.
Kriegsgeschehen
Israel hat dem Libanon mit schweren Konsequenzen gedroht, sollte die Waffenruhe mit der Hisbollah scheitern. „Wenn wir wieder in den Krieg ziehen, werden wir mit noch größerer Kraft vorgehen und noch tiefer eindringen“, sagte Verteidigungsminister Israel Katz am Dienstag bei einem Truppenbesuch. Es werde „keine Immunität für den libanesischen Staat mehr geben“, Israel werde nicht mehr zwischen dem Libanon „und der Hisbollah unterscheiden“, fügte Katz hinzu. Die Waffenruhe ist seit einer Woche in Kraft.
Die islamistische Hamas und die im Westjordanland regierende säkulare Fatah-Partei haben sich auf die Bildung eines Komitees geeinigt, das den Gazastreifen nach dem Ende des Krieges verwalten soll. Dem Plan zufolge, der noch von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas genehmigt werden muss, soll das Komitee in Abstimmung mit der Autonomiebehörde in Ramallah über die Bereiche humanitäre Hilfe, Bildung, Gesundheit, Wirtschaft und Wiederaufbau entscheiden.
Die israelische Armee hat sieben Palästinenser im Gazastreifen getötet, die an den Massakern vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein sollen. Zudem seien Positionen der Hamas wie Beobachtungsposten und Scharfschützenstellungen zerstört sowie Waffen und Munition beschlagnahmt worden.
Im Raum Hannover wurde am Dienstag ein mutmaßliches Hisbollah-Mitglied festgenommen. Der Verdächtige, der im Libanon ausgebildet wurde, soll laut Bundesanwaltschaft Leitungsaufgaben in zwei von der Miliz gelenkten Vereinen in der Region seit 2009 innegehabt haben. afp/dpa
Anwohner: „Viele haben jetzt noch mehr Angst als vor der Waffenruhe“
Der 63-Jährige hat auch den ersten und zweiten Libanonkrieg erlebt, aber so schlimm wie jetzt sei es damals nie gewesen. Die Drohnenangriffe machten den Krieg noch einmal bedrohlicher. Trotzdem hält Asher gar nichts von der Waffenruhe. „Wir haben nicht genügend Hisbollah-Leute umgebracht“, sagt er. „Wir hätten sie alle neutralisieren sollen, bis zum letzten Mann.“
„Viele haben jetzt noch mehr Angst als vor der Waffenruhe“, sagt Kioskbesitzer Abed: „Sie glauben, wenn die Kämpfe wieder losgehen, dann explodiert es so richtig.“ Der Mittdreißiger kennt diesen Krieg von innen und außen. Er verfolgt die Berichterstattung in Israel, hat aber auch als Soldat mitgekämpft. Erst in Gaza, wo er zwei Mal verwundet wurde, dann im Libanon. Abed weiß aber auch, was die libanesischen Medien über diesen Krieg berichten und kennt die Erzählungen der Binnenflüchtlinge in Beirut. Denn Abed ist selbst im Libanon geboren und aufgewachsen, bis seine Familie Anfang des Jahrtausends der Kollaboration mit Israel verdächtigt wurde und auf die andere Seite der Grenze floh. Damals hätte niemand gedacht, dass er 24 Jahre später wieder in das Dorf seiner frühen Kindheit zurückkehren würde – als Angehöriger der israelischen Bodenoffensive. Es waren gemischte Gefühle, die dabei hochkamen. „Der Libanon ist die Mutter, die mich gebar, Israel ist die Mutter, die mich großzog“, sagt er. „Aber nicht jede Mutter ist gleich gut zu ihrem Kind.“ Schon als kleiner Junge im Libanon habe er viel Gewalt gesehen. „Unser Spiel war es, Leichen zu zählen.“
Stimmung im Norden von Israel: „Das ist kein Kriegsende, nur eine Waffenruhe“
Wo seine eigenen Kinder aufwachsen werden? Abed weiß es nicht. Als die Hisbollah den Krieg begann, war seine Frau Elsi mit den drei Kindern in die 15 Kilometer weiter südlich gelegene Stadt Nahariya gegangen. Abed meldete sich freiwillig zum Reservedienst und rückte ein. In Nahariya waren die Schulen und Kindergärten geöffnet, es gab weniger oft Raketenalarm als in Schlomi, wo an manchen Tagen fünf Mal die Sirene heulte. Trotzdem kam Elsi jeden Tag zurück nach Schlomi, um den Kiosk offenzuhalten.
„Das ist kein Kriegsende, nur eine Waffenruhe“, sagt Elsi. Und zuletzt war die nicht mal so richtig ruhig. Am Montag griff die Hisbollah israelische Ziele auf den Golanhöhen an, Israel reagierte mit Beschuss im Libanon. Seit er sich erinnern kann, lebt Abed im Krieg. Er macht sich keine Illusionen. „Die Geschichte wird sich so lange wiederholen, bis es in der gesamten Region eine politische Lösung gibt.“ (Maria Sterkl)
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