Der sagenhafte Siegeszug von Frankreichs Tischtennis-Shootingstar Felix Lebrun bei den Olympischen Spielen in Paris ist gestoppt. Der 17-Jährige kassiert im Halbfinale beim 0:4 gegen den Chinesen Fan Zhendong die erste Niederlage und verpasst die Chance auf Gold.
Das Imperium fühlte sich herausgefordert. Erstmals seit 2008 schien ein Tischtennisspieler außerhalb von China in der Lage, olympisches Gold zu holen. Sensations-Teenager Felix Lebrun scheint geboren, das Unvorstellbare möglich zu machen, die Dynastie der Männer aus dem Reich der Mitte zu durchbrechen. Und wenn es mindestens nach den Menschen in Frankreich gegangen wäre, wäre der historische Machtwechsel im Kellensport bereits in diesen olympischen Tagen vollzogen worden.
Lebrun, dieser 17 Jahre alte Junge mit den blonden Haaren und der schwarzen Brille, lässt das Land seit Monaten beben. Er hat einen aberwitzigen Hype im Land ausgelöst. Die Stimmung in der Arena Paris Sud 4 changierte bei seinen Auftritten auf der Lärmskala irgendwo zwischen Rockkonzert und Formel-1-Arena. Doch an diesem Freitag endete der phänomenale Siegeszug des Wunderkinds mit dem ungewöhnlichen Penholdergriff. Im Halbfinale war Fan Zhendong zu stark, die Nummer zwei der Welt, die letzte Hoffnung der Chinesen auf Gold.
Fan Zhendong ist 27 Jahre alt, war zweimal Weltmeister und auch schon in der Rangliste der Beste der Welt. All das jedoch galt vor dem Duell mit Lebrun nicht. Der Franzose hatte sich derart in einen Rausch gespielt, dass er leicht favorisiert war. Wie er sich im Achtelfinale gegen den Deutschen Dimitri Ovatcharov aus einem Tief nach 3:0-Satzführung befreit hatte, hatte die Welt verzaubert. Unter anderem auch Zinédine Zidane, der sich den Hype um das erstaunliche Wunderkind persönlich anschauen wollte. Er kennt das selbst, war einst auch der Beste seiner Zeit und im Fokus. Aber er war eben ein großer Fußballer. Eine andere Liga, eine andere Dimension. Lebrun spielt Tischtennis, ist (noch) nicht der schillernde Posterboy. Und trotzdem wird er bereits in einem Namen mit dem stürmenden Weltstar Kylian Mbappé genannt. Was für eine Geschichte.
Fan Zhendong hat die besten Antworten
Aber eben einer, der mit dem Schläger in der Hand zauberhafte Dinge anzustellen weiß. Er hat einen brutalen Aufschlag, den vielleicht besten in der Welt. Er weicht selten von der Platte zurück, geht extrem früh auf die Bälle drauf und sucht immer wieder mutig, aggressiv und offensiv seine Chancen. Dass er brillieren, kämpfen und sich immer wieder aus Tiefs befreien kann, machte ihn plötzlich zum Favoriten auf Gold. Vor allem nach dem völlig überraschenden Drittrunden-K.-o. von Topfavorit Wang Chuqin gegen den Schweden Truls Möregardh.
Doch in der Runde vor dem Kampf um Gold stoppte China die Hoffnung auf einen Machtwechsel an der Platte. Fan Zhendong siegte glatt in vier Sätzen und spielte dabei herausragendes Tischtennis. Am Tag zuvor, in seinem Viertelfinale gegen den Japaner Tomokazu Harimoto, wirkte er fahrig und spielte äußerst fehlerhaft. Mit solch einer Leistung wäre er gegen Lebrun chancenlos gewesen. Doch der 27-Jährige steigerte sich, blieb unter dem gigantischen Druck gelassen und hatte sich gut auf seinen Gegner eingestellt.
Besonders auf dessen Aufschläge. Obwohl die sehr variantenreich sind, fand Fan Zhendong immer gute und flexible Antworten, breakte sein Gegenüber mehrfach. Um auf die aggressiven Attacken besser vorbereitet zu sein, zog er sich zudem weiter von der Platte zurück, das ermöglichte ihm mehr Reaktionszeit. Der Chinese beherrschte so das Spiel und stellte seinem Gegenüber Aufgaben, die er nicht lösen konnte. Er spielte klug, griff an und hielt das Highspeed-Game manchmal kurz. Lebruns unangenehme Bälle auf seinen (also Fan Zhendongs) Körper, konnte er mit seiner Top-Athletik umlaufen oder ihnen mit Oberkörper-Drehungen ausweichen und entsprechende Konterschläge anbringen.
Anderer Überraschungsmann im Finale
Der junge Franzose wirkte in diesem rasanten Duell mit einem aberwitzigen Tempo auf höchsten Niveau schnell verzweifelt, vor allem im dritten Satz, als er 4:1 geführt hatte und plötzlich 5:9 zurücklag. Er suchte immer wieder den Blickkontakt mit seinem Trainer, nahm Auszeiten, schrie den Ärger aus sich raus. Die gigantische Kulisse half ihm nicht. Vielleicht hemmte sie ihn sogar. Es ging zu wie einem Fußballstadion.
Als der Chinese nur noch einen Punkt vom Matchball entfernt war, ging der 17-Jährige in die Knie und ließ einen lauten Schrei los. Er wusste in diesem Moment offenbar, dass es das gewesen war. Dass er nicht als erster Franzose seit Jean-Philippe Gatien 1992 ins Olympia-Finale einziehen würde. Klar, im Tischtennis kann immer alles passieren. Er selbst hatte das gegen Ovtcharov erlebt, als er eingebrochen war und sich gerade noch rechtzeitig wieder fing. Auch im Viertelfinale gegen Lin Yun-Ju aus Taiwan litt er und behielt die Nerven. Doch gegen so einen Giganten wie Fan Zhendong, nein, da würde es kein Wunder, kein gigantisches Wunder geben.
Einen Matchball konnte er abwehren, den zweiten nutzte der coole Chinese dann aber spektakulär nach einer Hochgeschwindigkeits-Rallye. Fan Zhendong spielt nun um Gold, ausgerechnet gegen Möregardh, der ja seinen Landsmann sensationell rausgehauen hatte. Das Imperium steht also erneut in der Pflicht. Der Schwede kann am Sonntag in große Fußstapfen treten. Als bislang einziger Europäer sicherte sich 1992 in Barcelona Landsmann Jan-Ove Waldner Einzelgold. Lebrun spielt derweil gegen den Brasilianer Hugo Calderano um Bronze.