Horror ist Stephen King. Das ist Gesetz. Seit Jahrzehnten. Doch nun wackelt der Genrethron des Altmeisters nicht nur. Ein Niederländer nimmt darauf Platz. „November” als Hörbuch ist eine Offenbarung.
Es gibt Grundschüler in Deutschland, die kennen nur den FC Bayern München als deutschen Fußballmeister. Es gibt auch Teenies, die kennen nur Angela Merkel als Bundeskanzlerin. Und es gibt Erwachsene, die das Horrorgenre nur mit dem Namen Stephen King verbinden. Allerdings hat Bayer Leverkusen die Vorherrschaft der Bazis in der Bundesliga beendet. Der Kanzler heißt mittlerweile Olaf Scholz – und beim Thema Horrorbücher hat Thomas Olde Heuvelt den Altmeister aus den USA nicht nur herausgefordert – sondern abgelöst.
King nicht mehr das Maß der Dinge, was Horrorgeschichten angeht? Da werden einige Zeter und Mordio schreien. Andere vielleicht sogar das Wort Gotteslästerung in den Mund nehmen. Ist alles erlaubt und kein Problem. Die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. Aber mit „November” hat der Niederländer Heuvelt nach „Hex” und „Echo” sein bestes Werk abgeliefert und darf damit nicht nur am Kingschen Thron rütteln, sondern den Platz an der Sonne sogar einnehmen. Aktuell zumindest – und mithilfe von David Nathan.
Die Hörbuchstimme der King-Bücher hat auch „November” für den Ronin Hörverlag eingelesen. Dass das Buch bei Heyne erschienen ist, in dem auch die deutschen King-Ausgaben gedruckt werden, könnte Zufall sein, spricht aber wohl vielmehr für die Qualitätshändchen der dort arbeitenden.
Im Glück leben, freiwillig gegeben
Zufall hin oder her -eines ist sicher: Die Einwohner der Bird Street in der Kleinstadt Lock Haven im US-Bundesstaat Washington glauben nicht an ihn. Die sechs Familien, die in der Straße leben, haben etwas anderes, an das sie ihr Herz hängen: das perfekte Leben. Wohlstand, Gesundheit, Erfolg, Familienglück. Zumindest für elf Monate im Jahr. Im November, den dunkelsten vier Wochen, müssen sie für all das aber bezahlen. Es gilt einen Tribut zu entrichten. Je eher im November, desto besser. Denn je länger die Rechnung unbeglichen ist, desto düsterer wird der Monat. Plötzlich gibt es Streitereien, Unglücke passieren, ihre perfekte Welt bekommt Risse, droht sogar einzustürzen.
Und so haben die Bewohner der Bird Street einen Pakt geschlossen: Sie opfern jedes Jahr Anfang November einen Menschen im Wald, der an einer Seite direkt an die Häuser der Straße grenzt. Von den Grundstücken ist er mit einem meterhohen Zaun samt Stacheldraht abgegrenzt. Den Kindern wurde verboten, auch nur in dessen Nähe zu spielen.
Ein Menschenopfer für elf Monate pures Glück? Die Frage der Moral haben die Familien der Bird Street längst für sich beantwortet. Sie töten via Sterbehilfe. Sie suchen geeignete Kandidaten sehr sorgfältig aus, überprüfen deren Sterbewunsch – und wenn es dann soweit ist und das Opfer in den Wald geführt wurde, es aber einen Rückzieher machen will, weil es Gewissensbisse bekommen hat oder der Hunger auf Leben doch größer ist als die Anziehungskraft des Todes, dann lassen sie es auch wieder gehen. Die Suche startet dann erneut.
Der Teufel klopft immer zwei Mal
Ein Opfer pro November ist aber Pflicht. Das wissen die Familien, denn mit ihrem Gegenpart, dem sogenannten Buchmacher, natürlich der Teufel himself, ist nicht zu spaßen. Taucht er auf, ist die Kacke am Dampfen. Penibel genau führt er sein Schuldenbuch. Und wehe, die Bezahlung lässt auf sich warten – wie diesmal. Erst in letzter Sekunde wird ein Mensch gefunden, der freiwillig aus dem Leben treten will. Der gerade 16-Jährige, der mit seiner Homosexualität hadert, überlegt es sich mit Strang um den Hals aber noch anders. Dran glauben, muss er dennoch. Die Zeit für eine neue Suche war einfach zu knapp.
Der neue Deal mit dem Buchmacher ist somit teuer erkauft. Zu teuer. Kaila Lewis da Silva, bipolar und als Kunstspringerin auf dem besten Weg zu den Olympischen Spielen in Paris, kommt dem Treiben ihrer Eltern und der anderen Familienoberhäupter auf die Spur. Schon allein das raubt ihr den Verstand. Düstere Vorahnungen und Heimsuchungen brechen sich Bahn. Ein Schnitt mit dem Kartoffelmesser an ihren Bauch scheint ein Hilfeschrei zu sein. Gehört wird er aber nur vom Buchmacher. Aber der Teufel spielt bekanntlich immer ein falsches Spiel. Was hat er vor? Als der nächste dunkle Monat näher rückt, setzt sich eine tödliche Abwärtsspirale in Gang, an deren Ende ein Blutbad wartet.
Horror ist, was Du daraus machst
Heuvelts Highnoon am Ende von „November” ist eine Offenbarung der besonders dunklen Art. Aber wenn der Teufel seine Finger im Spiel hat, sollte man nicht weniger erwarten. Alles oder nichts! Nach diesem Motto verfahren Autor und Sprecher gleichermaßen. Zieht Heuvelt im Verlauf des Plots die Daumenschrauben an und erhöht das Tempo, dreht Nathan seine Stimmgewalt und Vielseitigkeit ebenfalls voll auf. Abschalten will man da nicht mehr! Zu groß ist der über fast 18 Stunden aufgebaute Spannungsbogen.
Die Länge ist zugegeben eine Hausnummer. Aber die Sprache Heuvelts, die Geschichte an sich, die starken Charaktere, das Mysteriöse, die wechselnden Sympathieträger, Twists und die stimmliche Wucht Nathans sorgen dafür, dass keine Langeweile aufkommt. Das ist auch ein Erfolgsgeheimnis von Stephen King. Da kann ein Hörbuch auch schon einmal mehr als 50 Stunden dauern, wie bei „The Stand”.
Wer Heuvelts Buch hört und das Werk Kings kennt, findet mehrere Verweise auf den Altmeister. So gesehen ist „November” auch eine Hommage, eine Huldigung Heuvelts, der neuen Genre-Nummer-Eins. Verteufelt nochmal!