„Das ist eine Kapitulation“: Warum die EU bei Migration und Asyl auf dem Holzweg sein könnte
Der Grüne Erik Marquardt gehört zu den profiliertesten Kritikern des Migrationskurses in der EU. Im Interview warnt er vor Trugschlüssen – und Gefahren für die Demokratie.
Straßburg – Erik Marquardt ist der neue Delegationschef der deutschen Grünen im EU-Parlament – und eine der profiliertesten Stimmen in Sachen Migrationspolitik. Im großen Interview mit IPPEN.MEDIA rügt er Fehlannahmen, sinnlose Debatten und „rechtspopulistische Verführung“ auch von Parteien der Mitte. Der 36-Jährige findet: Zwischen Grausamkeit an EU-Außengrenzen sowie im Mittelmeer und dem Ruf nach Grenzschließungen steht zunehmend auch die Demokratie auf dem Spiel.
„Seit Jahren behaupten wir, irreguläre Migration wird gestoppt – sie wird aber nicht gestoppt werden“
IPPEN.MEDIA: Viele haben das EU-Asylpaket begrüßt – Sie und die deutschen Grünen im Europaparlament nicht. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Probleme in der europäischen Migrationspolitik?
Erik Marquardt: Seit Jahren wird behauptet, man müsse irreguläre Migration stoppen und dann sei wieder alles in Ordnung. Migration ist aber kein Thema, bei dem man den Wasserhahn auf oder zu machen kann. Wir hängen in der Illusion fest, wir könnten alle Herausforderungen auf einen Schlag lösen, indem wir einen Großteil wegschicken oder niemanden mehr reinlassen – das hat aber noch nie funktioniert und wird auch in Zukunft nicht funktionieren. An der Zahl der Menschen, die nach Europa migrieren, lässt sich gar nicht so viel ändern. Die EU-Asylreform hat im Kern aber das Ziel, Migration durch schlechtere Behandlung von Asylsuchenden zu kontrollieren. Das wird nicht gelingen, es wird eher weiter Chaos und viel Leid geben.
Mit welchen Fragen sollte man sich aus Ihrer Sicht tatsächlich beschäftigen?
Zum Beispiel mit einer funktionierenden Integrationsinfrastruktur in Deutschland: Sprache, Bildung, Gesundheit, Unterkunft – wenn man da über Jahre nicht investiert, muss man sich nicht wundern, wenn es Probleme gibt und Konflikte in der Gesellschaft. Wenn man jedes Jahr verspricht, dass im nächsten Jahr endlich fast niemand mehr kommt, werden auch keine Projekte geplant, die langfristig mit Herausforderungen Schritt halten. Wir sparen uns die Probleme herbei und wiederholen seit Jahren immer die gleichen Fehler. Was die letzten Jahre – man kann fast sagen Jahrzehnte! – passiert ist, ist in weiten Teilen eine Kapitulation vor der realen Herausforderung.
Migration in Europa: „Wenn wir eine gerechtere Verteilung hätten, wären wir nicht so herausgefordert“
Gerade die Kommunen ächzen aber unter ihren Aufgaben. Kann bessere Verteilung helfen?
Kaum eine Kommune hätte ein Problem, wenn man ihr sagt: „Im nächsten Jahr kommen so und so viele Menschen, bitte baut das an Kapazitäten auf.“ Das können die Kommunen schaffen, wenn man sie dazu befähigt. Ein Problem ist, wenn plötzlich ein Bus mit Geflüchteten vor der Tür steht. Das stresst und erzeugt den Eindruck, dass die Staaten das nicht ordentlich organisiert bekommen. Wir müssen für eine bessere Verteilung sorgen – aber auch die Rechtsstaatlichkeit an den Außengrenzen wiederherstellen. Verschiedenste Regierungen halten sich nicht mehr an Recht und Gesetz, sondern wollen Geflüchtete eher nach Frankreich oder Deutschland weitertreiben.
Die Fronten scheinen verhärtet. Ist es überhaupt realistisch, da auf Änderung zu setzen?
Viele EU-Regierungen glauben, man müsse Migration über Gewalt, Entwürdigung und Entrechtung steuern, weil die Mittel des Rechtsstaats nicht ausreichen. Da wird schulterzuckend die Axt an Grundsätze der Demokratie gelegt. Alle wissen das, aber kaum jemand spricht darüber. Das finde ich unerträglich. Wenn es nicht realistisch ist, das zu ändern, hat die Rechtsstaatlichkeit in Europa keine Zukunft mehr, das muss man leider so nüchtern festhalten. Ich wünsche mir mehr laute Stimmen, die Rechtsstaatlichkeit verteidigen – es geht dabei gar nicht um progressive Migrationspolitik. Über viele Fragen kann man streiten: Verfahrensdauer, Verfahrensrechte der Geflüchtete im Einzelnen oder Zahl der Widerspruchsmöglichkeiten. Es ergibt nur keinen Sinn, darüber über Details der Asylgesetze zu streiten, wenn sich Behörden an den Außengrenzen sowieso an keine Gesetze halten. Der Rechtsruck in Europa ist kein theoretisches Konstrukt: Viele Geflüchtete erleben ihn an den Außengrenzen, wenn keine Hilfe zu Seenotfällen geschickt wird oder sie von maskierten Grenzbeamten völlig enthemmt verprügelt und entmenschlicht werden.
Die alte und neue Parlamentspräsidentin Roberta Metsola hat zum Start des EU-Parlaments gefordert, Menschen in den Fokus zu nehmen: Keine Mutter solle ihre Kinder einem Schlepper übergeben müssen. Macht Ihnen das Hoffnung?
Ich glaube, der Verweis auf Schlepper hat in den letzten Jahren vor allem dazu gedient, Verantwortung abzuschieben. Wenn Roberta Metsola das ernst meint, dann müsste sie dafür sorgen, dass man an den Außengrenzen wieder um Asyl bitten kann. Aktuell brauchen viele Menschen auf der Flucht Schlepper, um die Grenzgewalt zu umgehen. Schlepper verdienen nicht daran, dass es Asylsuchende gibt. Sie verdienen daran, dass man Menschen in weiten Teilen Europas nicht mehr wie Menschen behandelt und sie ihrer Rechte beraubt. Menschen in den Fokus zu nehmen, würde heißen, sie in ihrer Würde und ihren Rechten zu achten. Wenn man über Mütter und Kinder redet, sollte man nicht vergessen, dass tagtäglich Mütter mit ihren Kindern im Mittelmeer ertrinken und es keine staatliche Seenotrettungsmission gibt.
Migrations-Streit: Bezahlkarte und Bürgergeld für Geflüchtete – basierend auf falscher Annahme?
Stehen Kontrolle und Menschlichkeit in Widerspruch?
In den letzten Jahren ist eine Migrationspanik entstanden, die der Politik in weiten Teilen den Blick vernebelt hat. Es wird zwar immer wieder behauptet, aber es geht in der Asylpolitik in Kern nicht um moralische Fragen von Menschlichkeit, sondern um Grundsätze des Rechtsstaats. Die Menschenwürde, das Folterverbot, dass wir in rechtsstaatlichen Verfahren und nicht mit dem Knüppel entscheiden – all das ist der Kern des Rechtsstaats und nicht irgendeine grünlinke Ideologie. Seit Jahren scheitern Hardliner in der Asylpolitik daran, dass sie sich hysterisch gegenseitig rhetorisch überbieten wollen und ihre Vorschläge in der Praxis nicht umsetzbar sind oder Chaos erzeugen. Wer zum Beispiel fordert, man möchte doch bitte kontrollieren, dass niemand ohne Erlaubnis nach Deutschland kommt, müsste alle Leute überwachen lassen. Das ist vielen nicht bewusst.
Wieso das? Grenzkontrollen tun es nicht?
Es gibt über eine Milliarde Einreisen in den Schengen-Raum im Jahr. Von den Einreisenden beantragen ungefähr 0,1 Prozent Asyl. 99,9 Prozent kommen also in den Schengen-Raum, ohne Asyl zu beantragen, viele übrigens visumfrei. Niemand kümmert sich darum, wer da genau kommt und warum. Absolute Sicherheit ist eine Illusion, auch wenn wir die 0,1 Prozent extrem gut kontrollieren. Übrigens finde ich es tragisch, wenn man eine Errungenschaft wie den Schengen-Raum leichtfertig langfristigen Grenzkontrollen opfern will. Einen Asylantrag kann man auch bei einer Grenzkontrolle stellen. Teils fehlt es Abgeordneten auch etwas an migrationspolitischer Kompetenz – die sie ja gar nicht persönlich haben müssen. Aber man sollte zumindest ein bisschen auf die Wissenschaft hören. Das passiert kaum.
Diese Grausamkeit ist nicht nur völlig uneuropäisch, sondern auch völlig undemokratisch. Ich glaube, da graben wir uns selber das Wasser ab und merken es gar nicht.
Da wäre ein konkretes Beispiel gut.
Es gab große Debatten über Sozialleistungen für Geflüchtete, Bürgergeld für ukrainische Geflüchtete, die Bezahlkarte. Alles basierend auf der Annahme, dass Menschen vor allem nach Deutschland kommen, weil die Sozialleistungen hier zu hoch sind. Die Wissenschaft sagt aber, es gibt diesen Pullfaktor gar nicht. Diese Realität sollte erstmal für alle Parteien die gleiche sein. Dass wir da uns nicht einmal auf Tatsachenwahrheiten einigen können, macht uns handlungsunfähig..
Was meinen Sie?
Es gibt zum Beispiel sehr viele Leute, die ein großes Problem haben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt anzukommen, weil das vollkommen überbürokratisiert ist. Ich finde es etwas albern, dass Tausende Beamte damit beschäftigt sind, Anträge für die Aufhebung von Arbeitsverboten zu bearbeiten. Statt damit, Geflüchtete in Arbeit zu bekommen.
Erst Migration reduzieren, dann legale Wege schaffen? „Wir sind viel zu naiv“
Womit wir beim Thema Arbeitsmigration wären. Die ist ja eigentlich – jedenfalls in Teilen – gewünscht.
Es ist leicht zu sagen, ‚wir müssen stärker trennen zwischen Arbeit, Migration und Flucht’. Aber auf vielen Fluchtwegen gibt es sogenannte Mixed Migration Movements, auch auf Booten, die aus Libyen ablegen. Einige bekommen Asyl und andere wollen nur einen Job, um ihre Familie zu unterstützen und vor Hungersnöten zu bewahren. Das Asylverfahren ist dafür da, herauszufinden, wer in welche Kategorie gehört. Wir können aber nicht so tun, als seien die einen alle böse und die anderen alle gut.
Sondern?
Die Frage ist: Wie können wir diese Lotterie auf dem Mittelmeer um Leben und Tod dadurch ersetzen, dass wir reale Chancen für Menschen bieten, die wir dringend brauchen, die hier arbeiten wollen? Die könnten in Nordafrika in einem Center ein Bewerbungsverfahren durchlaufen und eine Chance haben, nach Europa zu kommen. Da investieren wir viel zu wenig.
Der Ruf nach Investitionen kommt aktuell sicher nicht überall gut an.
Auf diesem Feld Geld auszugeben heißt nicht, dass das Geld verloren ist. Einer Studie zufolge haben wir letztes Jahr allein in Deutschland 50 Milliarden Euro durch Arbeitskräftemangel verloren. Es ist Teil einer erfolgreichen Volkswirtschaft, zu organisieren, dass die Unternehmen Arbeitskräfte bekommen, die dort arbeiten und leben wollen. Wir sind viel zu naiv. Wir glauben, zuerst müssten wir die Migration reduzieren, dann könnten wir über legale Wege reden. Ich glaube, die Entscheidung lautet in der globalisierten Welt: Wollen wir, dass Migration chaotisch existiert und zu gesellschaftlichen Konflikten führt, oder wollen wir sie gut organisieren?
All das ist gerade politisch stark vermintes Terrain.
Eigentlich ist es inzwischen eine verkehrte Welt. Ich versuche eigentlich, konservative Politik durchzusetzen: Ich will einfach, dass geltendes Recht geachtet wird, dass die Menschenrechte geachtet werden. Die Menschenrechte sind keine moralische Kategorie, sondern sind in Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes verankert. Wir müssen beweisen, dass wir Probleme rechtsstaatlich besser lösen können, als durch autoritäre Maßnahmen, die mit Recht nichts zu tun haben.
Drittstaaten und Seenotrettung: „Recht des Stärkeren“ grabe Demokratie das Wasser ab
Ein letzter großer Streitpunkt ist die Seenotrettung.
Seit Jahren wird einfach behauptet, dass mehr Menschen nach Europa kommen, weil es die Seenotrettung gibt. Giorgia Meloni hat ihren Wahlkampf damit gefüllt, stärker gegen die Hilfsorganisationen vorzugehen. Und dann sind in ihrem ersten Amtsjahr doppelt so viele Leute angekommen, wie im Jahreszeitraum davor. Wir sind der Bevölkerung schuldig, aber auch den Menschen, die seit Jahren zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, dass wir uns auf die Fakten konzentrieren. Dass wir keine europäische Seenotrettungsmission haben, ist ein Armutszeugnis für Europa. Aber dass wir als EU-Staaten dann noch ehrenamtliche humanitäre Hilfsorganisationen drangsalieren, kriminalisieren und ihnen androhen, sie teils ins Gefängnis zu schicken, spielt in der Debatte eine viel zu kleine Rolle. Diese Grausamkeit ist nicht nur völlig uneuropäisch, sondern auch völlig undemokratisch.
Große Hoffnungen setzen die EU und auch die Staaten aktuell in Drittstaatenlösungen.
Ich glaube, da graben wir uns selbst das demokratische Wasser ab und merken es gar nicht. Systematische Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten hat nicht mal die AfD gefordert, als sie sich gegründet hat. Jetzt steht es im CDU-Grundsatzprogramm. Das sind keine guten Lösungsstrategien, sondern rechtspopulistische Forderungen, die die Bevölkerung mit vermeintlich einfachen Antworten auf komplexe Fragen verführen. Politik ist getrieben vom Wunsch nach einfachen Lösungen für alle Fragen. Die kann man gut verkaufen. Am Ende müssen Forderungen aber nicht nur toll klingen, sondern auch umsetzbar sein. Wenn man immer etwas verspricht, das im Rechtsstaat nicht umgesetzt werden kann, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich die Leute irgendwann von demokratischen Parteien abwenden. Das ist ein bisschen pathetisch… aber ich glaube, da geht es nicht nur um Migrationspolitik, sondern um eine Kernfrage: Lösen wir politische Probleme mit der Stärke des Rechts oder dem Recht des Stärkeren. Gerade hat sich auch die deutsche Debatte dafür entschieden, sich auf das Recht des Stärkeren zu konzentrieren.
Interview: Florian Naumann
Auch interessant
Kommentare
Teilen