Arnold Zweig: „Merkwürdig ist der naive und unkritische Nationalismus beider Seiten“
Der erste Mord: Arnold Zweigs Palästina-Roman „De Vriendt kehrt heim“ aus den 1930er Jahren in einer Neuausgabe, die aktueller nicht sein könnte.
Der 4. November 1995 sollte zur neuerlichen Zeitenwende in der Geschichte des Nahen Ostens werden. Ein fanatischer jüdischer Nationalist erschießt auf einer Friedenskundgebung in Jerusalem – sie stand unter dem Motto „Ja zum Frieden, nein zur Gewalt“ – Israels Regierungschef Jitzchak Rabin. Dieser Mord wird im Rückblick der Anfang vom Ende des von so viel Hoffnung begleiteten Osloer Friedensabkommens sein, das Rabin in den Mittelpunkt seiner Regierungsarbeit gestellt hatte. Das Attentat lässt Israel endgültig den Weg in Richtung Militärstaat beschreiten und führt mit dem wachsenden Einfluss der orthodoxen Minderheit und des radikalen Nationalismus zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft. Zwölf Jahre später erlebt die palästinensische Seite die Machtübernahme der Hamas-Terroristen im Gaza-Streifen.
Stand heute: Israel erlebt am 7. Oktober 2023 einen barbarischen Terrorangriff der Hamas. Dem Massaker fallen auf israelischer Seite etwa 1200 Menschen zum Opfer, Hunderte Frauen, Männer und Kinder werden als Geiseln verschleppt. Die Bevölkerung im Gaza-Streifen erlebt in den folgenden Monaten einen Bomben- und Bodenkrieg, der nach palästinensischen Angaben bisher 40 000 Menschen getötet hat. Die apokalyptischen Bilder aus Gaza zeigen fliehende, hungernde, verzweifelte Menschen und unendliche Trümmerlandschaften. Die Hamas-Fanatiker und der sein Land ins Unglück stürzende israelische Premier Benjamin Netanjahu treiben mit kaum noch zu überbietender Kälte zynische Machtpolitik: Nicht Frieden ist ihr Ziel, nicht das Wohl oder doch zumindest das Überleben der Menschen in Israel oder in Gaza steht im Zentrum ihres Handelns, sondern es geht ihnen einzig und allein um ihren Machterhalt. „Es war viel Weisheit nötig, im Orient Politik zu machen“, heißt es in Arnold Zweigs Palästina-Roman „De Vriendt kehrt heim“, „und sie ist leider nicht immer denen gegeben, die sie am nötigsten brauchen.“ Daran hat sich auch 92 Jahre später nichts geändert.
Zweigs Roman erschien erstmals 1932, und im Zentrum der Handlung steht ebenfalls ein politisch motivierter Mord jüdischer Nationalisten. Ihm fällt der Schriftsteller Jizchak Josef de Vriendt zum Opfer. Er hat in seinen Schriften und Reden den Zionismus, also die angestrebte jüdische Staatsgründung in Palästina, abgelehnt. Auch de Vriendts homosexuelle Beziehung zu einem jungen Araber hat die Orthodoxen empört.
Zweigs Geschichte beruht auf einem tatsächlichen Mordanschlag, der dem jüdisch-niederländischen Schriftsteller Jacob Israël de Haan 1924 in Jerusalem galt. Aber nicht – wie zunächst geglaubt – arabische Attentäter, sondern – wie im Fall de Vriendt – jüdische Nationalisten hatten die tödlichen Schüsse abgegeben. Im Vorwort zu der jetzt in der „Anderen Bibliothek“ erschienenen Neuauflage von Zweigs Roman schreibt Meron Mendel: „Es war der erste politische Mord in der Geschichte der Jischuv, der jüdischen Bevölkerung in Palästina vor der Staatsgründung Israels.“
Zweig verlegt die Handlung in das Jahr 1929, um sie in Verbindung mit dem damaligen arabischen Aufstand gegen die jüdische Siedlungspolitik zu bringen. Schon länger hat sich der Schriftsteller mit dem Schicksal de Haans beschäftigt. Den unmittelbaren Anlass, die Romanidee umzusetzen, bildet eine Reise nach Palästina. Vom 3. Februar bis 6. April 1932 hält Zweig sich in dem damaligen britischen Mandatsgebiet auf. Der Weg führt ihn über Port Said, Haifa, Akko, Tiberias und Damaskus nach Jerusalem. Erst dort erfährt er, dass nicht arabische, sondern jüdische Nationalisten für das Attentat verantwortlich gewesen sind. Diese Nachricht elektrisiert ihn. An Sigmund Freud schreibt er, dass „die Reise den alten Plan lebendig“ gemacht und er nach seiner Rückkehr innerhalb eines Monats „einen ganz brauchbaren, ja faszinierenden Entwurf“ skizziert habe.
Tatsächlich gelingt Arnold Zweig mit seinem Palästina-Roman ein glänzend geschriebenes, spannendes Prosawerk. Eine Kriminalgeschichte ist es, ein politisches Sittengemälde der Menschen dieser Region, die immer blindwütiger um den Besitz des noch weitgehend von trockenen Felswüsten geprägten Landes kämpfen. Zweig entwirft eindrucksvolle Bilder von der herben Schönheit der Landschaft. Vor allem aber ist es sein humanistischer und aufgeklärter Blick auf die nationalistischen Verirrungen auf beiden Seiten, die den Roman so aktuell erscheinen lassen. „Durch Strafe und Rache ist die Welt heruntergekommen bis auf diesen Zustand.“
Und auch dieser Satz hat heute nichts von seiner Gültigkeit verloren: „Stoß und Gegenstoß regieren die Welt, sie müssen aber durch Vernunft ausgeglichen werden, damit sie nicht zerstören.“ Wer sieht da nicht die Bilder der israelischen Geiseln und ihrer Familien oder die von Schrecken und Verzweiflung gezeichneten Menschen in der Hölle von Gaza?
Der Roman erschien im November 1932, also wenig Wochen bevor die Gewalt auch Deutschland zugrunde zu richten begann. „Das Buch wird bei Juden und Nichtjuden Anstoß erregen“, schreibt Zweig an Freud, „es verurteilt nämlich den Nationalismus und den politischen Mord.“ Und in der „Jüdischen Rundschau“ wird Zweig festhalten, wie erstaunlich er „das Nebeneinander der verschiedenen nationalen Kreise“ in Palästina empfunden habe. „Merkwürdig in diesem Land des Aufbaus ist der naive und unkritische Nationalismus beider Seiten.“
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Erfolg ist dem Buch nicht beschieden. Joseph Roth, mit seiner jüdischen Identität im lebenslangen Kampf liegend, schreibt empört: „Wie klein und dumm ist das alles und wie gelöst ist man plötzlich von jeder Bindung, jeder … Arnold Zweig ist ein Schwätzer.“ Ein anderer Kritiker konstatiert empört: „Ein wahrer Zionist hätte ein solches Buch nicht schreiben dürfen.“ Freund Lion Feuchtwanger, der mit seiner Josephus-Trilogie ein bedeutendes Romanwerk über die Geschichte der Region verfasst hat – die Handlung thematisiert den Jüdischen Krieg und die Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die römischen Eroberer im Jahre 70 n. Chr. – ist dagegen voll des Lobes. Im April 1933 beschlagnahmen die neuen Herren in Deutschland Zweigs Bücher in den Bibliotheken und Buchhandlungen. Im Amsterdamer Exilverlag Querido erscheint eine kleine Auflage, dann verschwindet der Roman.
Arnold Zweig, 1878 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns im schlesischen Glogau geboren, erlebt als Soldat an der polnisch-litauischen Ostfront im Ersten Weltkrieg die Welt des ostjüdischen Judentums. Die gläubigen, von tiefer Armut und Pogromen heimgesuchten jüdischen Menschen in Bialystok, Kowno oder Wilna beeindrucken ihn tief. In seinem großen Essay „Das ostjüdische Antlitz“ idealisiert er diese Welt, stellt sie dem assimilierten Westjudentum gegenüber. Er wird Kulturzionist wie viele mittel- und westeuropäische jüdische Intellektuelle (etwa Franz Kafka), die in Palästina nicht den jüdischen Staat, sondern das geistige Zentrum für die Juden in aller Welt sehen. Als Zweig 1932 nach Palästina aufbricht, ist er einer der bekanntesten Autoren der Weimarer Republik. Den endgültigen literarischen Durchbruch hat 1927 das Erscheinen seines Romans „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ gebracht, der in den Gräben von Verdun während des Ersten Weltkriegs spielt.
Zweigs zionistische Begeisterung beginnt Ende der 1920er Jahre bereits einer zunehmenden Ernüchterung zu weichen. 1934 geht er ins erzwungene Exil und lebt bis 1948 in Haifa. Unglücklich ist er dort, die finanziellen Zuwendungen des in den USA lebenden Freundes Feuchtwanger sind ein Rettungsanker. Im Land, dessen jüdische Bevölkerung sich auf das Überleben der wachsenden Zahl aus Europa hereinströmender Flüchtlinge konzentrieren muss, fühlt er sich als Autor übersehen und als politischer Essayist angegriffen. Er weigert sich hebräisch zu lernen und verteidigt die Politik der Sowjetunion, was ihm viele israelische Intellektuelle verübeln.
An Rudolf Olden schreibt er 1940: „Man hat mir meinen Roman ,De Vriendt kehrt heim‘ hier halt sehr übelgenommen.“ Das klingt ein wenig larmoyant. Es ist wohl vielmehr so gewesen, dass seine jüdischen Landsleute den Roman einfach weitgehend nicht zur Kenntnis genommen haben. Bis heute gibt es keine hebräische Übersetzung.
Zweig wird 1948 in die spätere DDR umsiedeln, dort als „Staatsschriftsteller“ und „sozialistischer Humanist“ gefeiert und versorgt. Sein Palästina-Roman findet allerdings auch in der von Antisemitismus keineswegs freien DDR kaum Beachtung. Er erscheint dort 1956 in einer „gereinigten“ Neuausgabe. „Dass der Roman ,De Vriendt kehrt heim‘ weder bei seinem Erstdruck noch bei den späteren Auflagen Anerkennung fand“, schreibt Julia Bernhard, Herausgeberin des entsprechenden Bandes, der 1991 in der „Berliner Ausgabe“ von Zweigs Werken erschien, „liegt weniger an seiner literarischen Qualität als an den jeweiligen politischen Umständen“.
Die jetzige Ausgabe ist ein Neudruck zur rechten Zeit. „Der Geisteszustand der Menschen, ihre Aufregung, ihre Empörung gegeneinander, die Fragwürdigkeit des Besitzes und der Zukunft für jeden Einzelnen, das wilde, pausenlose Umsichschlagen mit Drohungen, Ratschlägen und Verzweiflungsmaßnahmen – all das schuf die Atmosphäre des Krieges.“
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